Hier der wunderbare Artikel von Harald Worms von der Heimatseite der aktuellen Ortsnachrichten (November 2021):

                               Aus einer anderen Zeit

                       - eine Alltagsbetrachtung -

Wer heute über 70 ist und sich an seine Kindheit (in Dresden) in den 1950er-Jahren erinnert, stellt schnell fest, dass er aus einer anderen Zeit kommt.

Es war die Zeit als Strümpfe noch gestopft, es noch Stromsperren und Aschegruben gab, im Winter noch Eisblumen an den Fensterscheiben waren, Autos noch Winker und Trittbretter hatten. Wörter wie gefallen, ausgebombt und abgehauen (in den Westen) waren im Alltag oft zu hören. Schuhe mit Klettverschlüssen gab es noch nicht. Wir mühten uns ab mit den Schnürsenkeln eine Schleife zu binden. Wir hatten eine Lederhose und ein Taschenmesser, aber kein Handy oder Smartphone. Wir sammelten Briefmarken und tauschten sie. Fernsehen gab es noch nicht. Dafür spielte die Familie „Mensch ärgere dich nicht“ oder Karten. Auch war die Straße unser Spielplatz, denn auf ihr gab es mehr Kinder als Autos. Wenn überhaupt hatten die wenigsten Kinder ein Fahrrad. Wir Jungen aber hatten eine Dreieckbadehose. Anders als heute waren die Schulranzen in den ersten vier Schuljahren klein und aus Leder. Sonnabends war noch Unterricht. Die Lieder „Die Heimat hat sich schön gemacht“ und „Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“ können die meisten von uns noch heute singen. Wan- dertage waren besondere Höhepunkte im Schulalltag. Fragen Sie mal heute Kinder, ob sie den Wilisch oder die Jagdwege kennen. Unseren Freunden berichteten wir voller Stolz, wenn wir im Ausland waren. Dies geschah anders als heute. Auf Wanderungen mit den Eltern in der Sächsischen Schweiz oder im Osterzgebirge hüpften wir 2 bis 3 m über die Grenze und waren in der Tschechei.

Unsere damaligen Freuden und Ansprüche sind mit heute nicht ver- gleichbar. Wenn man keine Westpakete bekam, war eine Tafel Schokolade etwas ganz Besonderes. Eine gute Tafel kostete damals 3,85 Mark. Sie wurde in unserer Familie geviertelt. Jeder bekam sechs Stück und hatte das Problem gleich munden lassen oder aufteilen. Bei eingepackten Geschenken wurde das Schleifenband sorgsam entknotet und das Geschenkpapier, besonders wenn es Westliches war, geglättet und zur Wiederverwendung aufgehoben.

Es gab noch keine Kaufhallen. Im Sprachgebrauch war noch der Kolonialwarenladen vertreten. Die Verkäuferinnen addierten die Preise der gekauften Waren noch häufig auf Zeitungsrändern. Eier erhielt man nach dem Durchleuchten in der Papiertüte. Für uns Kin- der war der Balanceakt bis nach Hause schon ein Problem. Milch gab es im Milchladen in die mitgebrachte Milchkanne. Zu Hause musste diese sofort abgekocht werden, damit sie nicht sauer wurde. Den Geschmack von ranziger Butter vergisst man auch nicht. Statt einem Kühlschrank gab es den Eisschrank, der mit Stangeneis zu füllen war. Der Schmelzwasserbehälter musste immer rechtzeitig entleert werden. Es war auch die Zeit als jeder Haushalt noch mehrere Zentner Kartoffeln einlagerte. Das Stapeln bzw. Aufschichten der Briketts aus Platzgründen im Keller war „Kinderarbeit“. Dafür gab es eine Gabe für die Sparbüchse. Bei Waldspaziergängen mit der Familie wurden für die Ofenfeuerung Zapfen gesammelt. Wir Kinder trugen jeder meist auch zwei dicke Knüppel heim. Eine offene Ofentür mit dem Feuer übte auf uns Kinder immer einen besonderen Reiz aus.

Wir Jungen haben natürlich in unserer Indianerzeit auch geraucht. Im Rauchen von gerolltem Klopapier und Löschblättern waren wir Meister. Es soll aber niemand sagen, dass deshalb in der DDR das Klopapier knapp war.

Neugierig waren wir auch. Wir lernten Erwachsenen zuzuhören und erfuhren gerade bei größeren Feiern so manches, was nicht unbedingt für unsere Ohren bestimmt war. Beim Friseur waren uns längere Wartezeiten lieb. Denn so konnten wir uns ausgiebig das Magazin (Monatszeitschrift) mit nackten Frauen angucken.

Zur Sparsamkeit wurden wir erzogen. Drei Haltestellen fuhr man nicht mit der Straßenbahn (Kinderfahrpreis 10 Pf.). Man lief. Nach der Schule sammelten wir Kinder oft Flaschen/Gläser im Wohngebiet. Danach überlegten wir, ob wir es uns leisten können, eine Semmel für 5 Pf oder sogar eine Mauschelle für 12 Pf zu kaufen. An Sonntagen durfte keine Wäsche sichtbar im Freien getrocknet werden. Der Sonntag war noch heilig. Zum Spaziergang wurde Sonntagskleidung angelegt. Dazu zählten auch weiße Kniestrümpfe. Traf man Bekannte, machten wir Jungen zur Begrüßung einen Diener und die Mädchen einen Knicks. Sicher wissen heute viele gar nicht mehr, was das ist.

In der Schule, wo es noch das Fach Heimatkunde gab, war es eines der größten Vergehen, wenn jemand eine Schnitte wegwarf. Wir lernten noch die Nationalhymne der DDR mit dem Text von J. R. Becher auswendig. Die Verbundenheit mit ihrem Inhalt und ihrer Aussage ging nie verloren.

Wir haben anfangs noch in der Elbe gebadet und Schlepper mit bis zu 4 Zillen (bis zu 30 m lange flachbodige Lastkähne) im Schlepp- tau gesehen. Wir wissen noch, wie Ruinen riechen. Wir kannten noch die Geschichte von den „10 kleinen Negerlein“ und waren be- geistert, wenn man, was ganz selten geschah, einem Neger auf der Straße begegnete. Wir aßen die Schnitte zugeklappt, um Belag zu sparen. Im Gegensatz zu heute, war Stubenarrest die größte Strafe. Vieles gäbe es noch zu nennen. Wir hatten kein Anspruchsdenken und kein Modebewusstsein. Am schönsten war es, draußen zu sein. Wir waren glücklich, hatten viele Freunde und Spielkameraden und vermissten (außer Kaugummi) fast nichts.

Harald Worms
Ortsgruppe Gompitz
Landesverein Sächsischer Heimatschutz e. V.

 

 

   

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